Page 10 - alt & jung 01/2021
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    Otto Wulff, 88, früher Kreisrat, stv. Landrat, Mitglied des Bundes- tages und des Europa- rates
Lilli Fischer, 20, Mitglied im Stadtrat von Erfurt
Sie hat anderes zu tun, sie steht selbst mittendrin in der Politik. Zur CDU kam sie mit 15 Jahren. Damals wollte sie in Erfurt ein Schülerparlament gründen, suchte Unter- stützung und fand diese bei der Jungen Union. Dann ging es Schlag auf Schlag: Stadträtin mit 19, dann stell- vertretende Vorsitzende der Stadtratsfraktion. Jetzt ist sie zum ersten Mal Delegierte auf dem Bundesparteitag.
Ihren ersten Aufschlag in der Bundespolitik hat sie allerdings schon im vergangenen Herbst gemacht. Da postete sie ein Video, das durch eine gläserne Büro- wand aufgenommen worden war. Star der Szene: der Vorsitzkandidat Norbert Röttgen. Er merkt nicht, dass jemand ihn aufnimmt. So sitzt er also mit gebügeltem Hemd und Krawatte auf seinem Bürostuhl, wie man das von einem braven Abgeordneten erwartet. Aber statt Akten zu büffeln, trödelt er ein wenig, wirft einen hell- grünen Tennisball gegen die Wand, fängt ihn wieder auf, wirft noch einmal. Das Video strahlt fröhliche Pri- vatheit aus, eine kleine Sensation im streng getakteten Politbetrieb. Im Internet ist es schon fast 190 000-mal geklickt worden, sodass natürlich gleich ein PR-Gag vermutet wurde. War aber nur Zufall, sagt Lilli Fischer.
Der Parteitag ist ihre eigentliche Premiere in der Bundespolitik. Wie Otto Wulff gehört sie zu den 1001 Delegierten, die nach den Statuten der CDU den Vor- sitzenden wählen. Die Mandate sind nach Bundeslän- dern geordnet. 200 Plätze werden unter den Landes- verbänden nach dem Stimmverhältnis bei der letzten Bundestagswahl verteilt, 800 nach der Mitgliederzahl. Je einen Delegierten bekommen dazu die anerkannten CDU-Auslandsverbände. Da gibt es derzeit allerdings nur einen, den in Brüssel – wegen der vielen CDU-Mit- glieder, die dort bei europäischen Institutionen arbei-
ten. Es gibt 652 Männer und 349 Frauen, der Altersdurchschnitt liegt bei 52 – also fast genau auf halbem Wege zwischen Lilli Fi- scher und Otto Wulff.
Der Rohstoff des Parteiwillens
Wenn Parteitage Fabriken zur Herstellung politischen Willens sind, dann ist klar, dass das End- produkt vom Rohstoff und sei- nen Lieferanten abhängt. Die Lieferanten sind in diesem Fall zunächst die Landesverbände der CDU mit ihren Delegierten- kontingenten. In ihnen entste- hen erste vorläufige Machtbal- lungen. Nordrhein-Westfalen ist mit seinen 298 Stimmen in die- sem Kreis der Goliath, danach kommen vier große westliche Verbände: Baden-Württemberg mit 153 Stimmen, Niedersach- sen mit 136, Rheinland-Pfalz mit 89 und Hessen mit 88. Die übri- gen westlichen Bundesländer mit Berlin haben 133 Stimmen, die fünf östlichen 103. Letztere treten oft gemeinsam auf. Über- haupt gibt es immer wieder Absprachen zwischen den Lan- desverbänden, etwa zwischen Schleswig-Holstein und Rhein- land-Pfalz: Wählst du meine Kandidaten, wähle ich deine. Und der winzige Landesverband Mecklenburg-Vorpommern sucht seine Allianzen bei den ostdeutschen Verbänden genau wie bei den norddeutschen.
Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist, dass jeder Lan- desverband ein hochkomplizier- tes Universum für sich ist – genau wie die Tischgesellschaft mit Stehkragen, die nach dem Krieg im Wulff‘schen Haus Poli- tik bei Erbsensuppe machte: Sehr vieles kam da zusammen, vom Bauern bis zum Kaufmann, oft auch Gegensätzliches. Das einzig Verbindende war eine nicht immer ganz konkrete Vorstel- lung, dass es fortan anders zuge-
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Mitgliedermagazin der Senioren-Union
Foto: Roland Rochlitzer; Aniko Lembke






















































































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