Page 17 - alt & jung 04/2021
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   Kommentar von Diana Kinnert
Einsamkeit macht krank
  Einsamkeit ist Gefühl und Zustand, Einsamkeit gibt es seit Jahrtausen- den und ist natürlicher
Bestandteil menschlicher Erfah- rungswelt, ja, aber sie ist heute eben auch Politikum. Nicht so sehr das subjektive Gefühl an sich, sondern die zunehmende Gesellschaftserfahrung von In- dividualisierung, Vereinzelung, Segregation und Isolation. Ein Thema also, das vor allen Dingen von gesellschaftlichen Trends und Bedingungen geprägt ist und manchmal drastisch und ge- sundheitsgefährdend auf den Menschen von heute einwirkt.
In Großbritannien gibt es un- längst ein ganzes Ministerium gegen Einsamkeit, Japan und an- dere Länder sind in der Zeit der Corona-Pandemie nachgezogen. Auch die Europäische Kommis- sion forscht und bespricht Ein- samkeit. In Deutschland ist ein Beauftragter für Einsamkeit und die politische Beschäftigung mit Trends von Vereinzelung, Se- gregation und Isolation außer Sichtweite. Das ist fatal. Gerade unsere von westlichen Markt- mechanismen und zunehmender Rationalisierung geprägte Indust- riegesellschaft, die obendrein starke demographische Verände- rungen erlebt und infrastruktu- relle Reformdefizite zählt, wird vom gesellschaftlichen Phäno- men der Einsamkeit besonders bedroht.
Doch wie äußert sich dieses höchst subjektive Gefühl? Wer ist einsam? Was bewirkt Einsamkeit? Laut einer aktuellen Studie des
Instituts für deutsche Wirtschaft (IW) fühlen sich in Deutschland über acht Millionen Menschen oft oder immer einsam, Tendenz deutlich steigend. Parameter wie der Anstieg der Rate der Ein-Per- sonen-Haushalte spiegeln Trends gesellschaftlicher Vereinzelung. Daneben fallen Muster in der Er- hebung auf: Gerade Arme und Kranke fühlen sich häufig isoliert. In Deutschland berichteten zu- letzt 18 Prozent der Befragten mit einem schlechten Gesund- heitszustand von Einsamkeit – mehr als doppelt so viele wie unter den Gesunden.
Eine Auswertung von 148 Stu- dien aus den USA, Europa, Asien und Australien zeigte, dass die drei Parameter soziale Isolation, Einsamkeit und Single-Dasein je- weils messbare Auswirkungen auf einen vorzeitigen Tod haben – und zwar ebenso stark wie die Risikofaktoren Fettleibigkeit oder Rauchen. Bereits 2010
hatte eine Studie den Einfluss von Einsamkeit auf die Sterblich- keit mit dem des Rauchens gleichgesetzt. Einsamkeit ist damit nicht nur persönliches Schicksal, sondern wird zur Her- ausforderung öffentlicher Ge- sundheit.
Es verdiente politische Ausei- nandersetzung, um die dahinter- liegenden Zusammenhänge von Einsamkeit auf die Spur zu kom- men. Wenn Einsamkeit ansteigt, wie sie ansteigt, der Mensch aber noch immer derselbe ist, scheint Einsamkeit von gesell- schaftlichen Bedingungen ge- prägt zu sein.
Bei jungen Menschen hat der Einfluss der sozialen Medien auf die Qualität sozialer Beziehun- gen sicherlich seinen Anteil; lie- ber flüchtig, unverbindlich, oberflächlich in Kontakt zu ste- hen, denn intime, fürsorgliche, aufrichtige Verbindungen zu pflegen. Das ist zu untersuchen. Bei älteren Menschen liegen Er- fahrungen mit dem Tod, mit Witwenschaft, einem schwin- denden Freundeskreis, der Be- weglichkeitseinschränkung, dem Ausschluss aus digitaler Kommunikation, der Altersar- mut und der kulturellen Un- sichtbarkeit auf der Hand. Eine Gesellschaft, die immer älter wird, wird sich nicht erlauben können, diese Themen an sich vorbeiziehen zu lassen. Eine inf- rastrukturelle Einbindung und kulturelle Anerkennung dieses wachsenden Bevölkerungsteils ist damit unbedingte Zukunfts- aufgabe.
 Diana Kinnert ist Mitglied der CDU, selbstständige Un- ternehmerin und Publizistin und Autorin. Sie beriet das weltweit erste Ministerium gegen Einsamkeit unter Premierministerin Theresa May in Großbritannien.
KOLUMNE
Foto: Dominik H. Müller





















































































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